Zechenvergangenheit mit den „Zechenkindern“ von David Schraven

Natürlich gehören Zechen zu den wichtigen Orten des Ruhrgebiets, die Geschichte erzählen. Bevor das auf diese metaphorische Weise möglich ist, ist es hilfreich, wenn Zeitzeugen ihre Erinnerungen dokumentieren. Vor einem Jahr erschien mit „Zechenkinder“ eine Sammlung solcher Erinnerungen. Der Hinweis auf die Sammlung darf in diesen Räumen, in denen ich mich der Geschichte des Ruhrgebiets widme, nicht fehlen. Nur der Vollständigkeit halber: Die Besprechung ist erstmals nebenan im Zebrastreifenblog erschienen.

Mit das Schwerste beim Schreiben sind erklärende Worte für die eigene Begeisterung. Am liebsten wäre es mir, für “Zechenkinder” von David Schraven glaubt ihr einfach ohne weitere Gründe so eine Art Klappentext-Megaloblyrik á la “Die vielen Stimmen der Bergmänner finden zu einem beeindruckenden Gesang auf die Revier-Vergangenheit zusammen” oder prosaischer “Wunderbarer Lesegenuss für Menschen- und Revierfreunde”.  Vielleicht auch: “Großartige Worte über eine fast vergangene Zeit, ohne die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren!”

Wenn ihr mir das einfach mal glaubt, könnte ich mich wieder meiner Begeisterung hingeben, mich vom Klang der Sprache der von David Schraven interviewten Bergmänner in die Wirklichkeit hinein ziehen lassen, in der ich aufgewachsen bin – eine Wirklichkeit, die im Ruhrgebiet der Gegenwart beim Umgang der Menschen miteinander so oft weiterhin lebendig ist. Aber das nutzt ja alles nichts, hier kommen schließlich auch immer wieder mal  Leute vorbei, denen meine Begeisterung als Argument für die Lektüre von “Zechenkinder” nicht genügen wird.  Dabei verdient das Buch von David Schraven jede Unterstützung.

In “Zechenkinder” lässt David Schraven 25 Bergleute selbst zu Wort kommen. Was sie über ihr Berufsleben im Besonderen und ihre Haltung zum Leben, zur Welt im Allgemeinen erzählen, hat er aufgezeichnet und zu einem O-ton-nahen Fließtext verdichtet. Drei bis sieben Seiten sind diese Erzählungen lang. Der älteste Bergmann ist Jahrgang 1932, der jüngste Jahrgang 1971. Sie haben in unterschiedlichen Funktionen auf Zechen gearbeitet. Die verschiedenen Bereiche ihres Berufslebens sind der Grund für ihr Erzählen über die Welt. Beeindruckende Portraitfotos von Uwe Weber sind den Texten vorangestellt, eine kurze Fotoreportage von ihm über den Bergbau leitet das Buch ein. Diese Fotos verweisen auch auf die liebevolle Ausstattung des Buches. “Zechenkinder” ist ein Fest für bibliophile Leser.

David Schraven wollte ein “Bild von den Zechenkindern zeichnen: offen, ehrlich und ungeschönt”. Dieses Vorhaben ist ihm in jeder Hinsicht großartig gelungen. “Zechenkinder” ist aber noch sehr viel mehr geworden. Ein einzige Stimme nur erzählt in diesem Buch in ausschließlich biografischer Perspektive. Alle anderen Erzählungen verweisen über das eigene Leben hinaus. In allen anderen Erzählungen ist das eigene Erleben nur Anlass, um Einblicke in andere Welten zu geben. Natürlich wird über das Leben unter Tage berichtet. Wehmut klingt manchmal an, wenn an den Zusammenhalt in den 1950ern und 1960ern erinnert wird und an die harte Arbeit damals, die die “einzige Währung” war, die zählte. Deshalb wurden Ex-Nazis unter Tage in Ruhe gelassen.

Die 1970er Jahre werden lebendig. Konkurrenzdruck wird zum Thema, und heil ist die Welt des Bergbaus nicht mehr für alle. Über Zechenschließungen können die Gewerkschafter unter den Bergleuten viel erzählen. Bis in die Gegenwart hinein führen die Erinnerungen, die Einblicke in die Wirklichkeit von Politik und Gewerkschaftsarbeit geben. Da mangelt es ebenso wenig am harschen Urteil über EU-Kommissar Günter Oettinger wie am lebendigen Erzählen über die explosive Stimmungen unter den Kumpels Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er.

Ein Kapitel versammelt zudem all die “Zechenkinder”, die in die Welt hinaus gekommen sind. Sie arbeiteten in Russland oder nahmen in China an der Weltmeisterschaft der Bergleute teil. Manche Bergleute verließen aber auch schon früh die Zechen und kamen in anderen Berufen und Milieus der deutschen Gesellschaft unter. Dennoch blieb die Arbeit auf Zeche für sie eine prägende Erfahrung.  David Schraven gelang mit “Zechenkinder”  mehr als er zunächst vorhatte. Im Buch findet sich  die Auslandsreportage ebenso wie die Milieustudie. “Zechenkinder” wurde zum Geschichtsbuch. Es ist Heimatbuch, und natürlich ist es auch ein wunderbares Buch über die Menschen des Ruhrgebiets.

Zechenkinder

David Schraven
Zechenkinder
25 Geschichten über das schwarze Herz des Ruhrgebiets.
Mit Fotografien von Uwe Weber
Ankerherz, Hamburg 2013
ca. 230 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
Leineneinband mit Prägung
inkl. E-Book
ISBN-13: 978-3-940138-54-5
24,99 EUR